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Klassismus und Verfassungsrecht

Bietet das Verfassungsrecht Schutz vor intersektional, klassistischer Diskriminierung?

Published onMar 01, 2022
Klassismus und Verfassungsrecht
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AUFZEICHNUNG

Hybride Veranstaltung am 7.7.2022 um 18.15 Uhr. Über Zoom und der WWU Münster.

VORTRAG

Die Frage des Untertitels „Bietet das Verfassungsrecht Schutz vor intersektional, klassistischer Diskriminierung?“ beantwortet die Referentin Nazli Aghazadeh-Wegener mit „Nein“ – zumindest gegenwärtig. Um einen verfassungsrechtlichen Schutz vor intersektional, klassistischer Diskriminierung anzubieten, brauche es jedoch kein neues Verfassungsrecht. Nazli Aghazadeh-Wegener plädiert vielmehr dafür bestehende Ansätze weiterzudenken. Konkret würde das bedeuten, das materiale Gleichheitsverständnis auszuschöpfen und den Sozialstaat durch die Brille materialer Gleichheit zu betrachten.

Im Verfassungsblog führt Nazli Aghazadeh-Wegener die Thesen ihres Vortrags aus. Hier nachzulesen.

An dieser Stelle folgt nur eine sehr knappe Übersicht:

  • Ein materiales Gleichheitsverständnis gehe davon aus, dass Ungleichheit und Diskriminierung Ergebnis gesellschaftlicher Machtasymmetrien sei. Ein materiales Gleichheitsverständnis fragt nach faktischer Benachteiligung und nicht nach formaler Gleichstellung (cf. Feminist Legal Theory, Critical Race Theory, ClassCrits).

  • Beispiel für intersektionale, sozioökonomische Benachteiligungssituation im Sozialstaat: Sozialversicherungsrecht knüpfe mittelbar an Erwerbsarbeit an und beruhe auf der Fiktion des gleichen Zugangs zu Erwerbsarbeit. Strukturelle, tatsächliche Hindernisse zu Erwerbsarbeit würden nur ausnahmsweise beachtet (§ 56 SGB). Intersektionale Benachteiligungsstrukturen jedoch nicht.

  • Weder das Sozialstaatsprinzip allein noch die Gleichheitsgarantie allein können die intersektionale Benachteiligung nach aktuellem Verständnis voll erfassen. Das Sozialstaatsprinzip sei zwar sensibilisiert für Machtasymmetrien (s. Verbraucher-, und Mieterschutz). Es erfasse aber nur die Umverteilungsdimension. Das Antidiskriminierungsverbot sei hingegen nur auf Anerkennung ausgerichtet. Zusammen könnten sie die Anerkennungs- und Umverteilungsdimensionen sozioökonomischer Ungleichheit (cf. Fraser, Fredman) adressieren.

  • Dies habe unterschiedliche rechtspolitische Konsequenzen.

DISKUSSION (AUSSCHNITT)

  • Eine Erweiterung des grundgesetzlichen Kategorienkatalogs um die Kategorie „sozialer Status“ wie im Berliner Landesantidiskriminierungsgesetz (LADG) brauche es nicht und könne das Problem sozioökonomischer Ungleichheit auch nicht (allein) lösen. „Soziale Herkunft“ sei zwar vom BVerfG in der sog. Armenrechtsentscheidung so ausgelegt worden als sei nur die bei Geburt bestehende materielle Lage erfasst; also nur die soziale Herkunft, in die man hineingeboren wurde. Es sei aber trotzdem möglich „soziale Herkunft“ so zu interpretieren, dass auch die gegenwärtige materielle Lage darunterfalle. Den Diskriminierungsverboten gehe es aber um Anerkennung und nicht Umverteilung. Deshalb brauche es weiterhin eine Verknüpfung mit dem Sozialstaatsprinzip.

  • Die Kategorie „sozialer Status“ des Berliner LADG sei asymmetrisch auszulegen.

  • Die Idee Gleichheitsrechte mit dem Sozialstaatsprinzip zu verknüpfen sei neu und erscheine auch für das Steuerrecht anschlussfähig zu sein.

  • Die völker- und unionsrechtlichen Vorgaben seien im sozialstaatlichen Bereich begrenzt. Die Gleichheitsgarantien hingegen weitergefasst als im nationalen Recht; im Sozialpakt werden z.B. die Kategorien Geburt und Vermögen benannt. Die Sustainable Developent Goals könnten für transnationale Gerechtigkeitsdebatten anschlussfähiger sei.

ANKÜNDIGUNGSTEXT

Ökonomische Ungleichheit ist nicht naturgegeben und sie ist nicht zufällig. Sie ist Resultat einer Wirtschafts- und Rechtsordnung, geschaffen in einem bestimmten Kontext von denen und zugunsten derer, die politische Macht innehaben. Die politisch Machtlosen sind wenig überraschend ökonomischer Benachteiligung ausgesetzt. Diese Benachteiligung (Klassismus) steht dabei in Wechselwirkung mit identitätsbasierter Benachteiligung (z.B. Sexismus, Rassismus) – Stichwort Intersektionalität. Mit Blick auf die in unserer Wirtschafts- und Rechtsordnung so zentrale Erwerbstätigkeit zeigt die sozialwissenschaftliche Ungleichheitsforschung, dass Diskriminierungserfahrungen in diesem Bereich vor allem von Frauen of Colour gemacht werden. Vor allem sie können häufig ihre Existenz nicht sichern und für soziale Risiken wie das Alter vorsorgen. Warum ist der Sozialstaat diesem Missstand gegenüber offenbar indifferent? Kann das Antidiskriminierungsrecht Abhilfe schaffen?

Die Rechtswissenschaftlerin Nazli Aghazadeh-Wegener zeigt, dass im verfassungsrechtlichen Sozialstaatsprinzip nach vorherrschendem Verständnis die ökonomische Benachteiligung zwar teilweise gesehen wird, die intersektionale Ungleichheitslage aber unsichtbar bleibt. Das Gleichheitsgrundrecht bietet hingegen Anknüpfungspunkte zur Berücksichtigung der intersektionalen Ungleichheitslage, hinterlässt aber Lücken im Schutz vor Diskriminierungen wegen der sozio-ökonomischen Lage. Ausgehend von einem materialen Gleichheitsverständnis, schlägt Nazli Aghazadeh-Wegener vor, das Sozialstaatsprinzip und das Gleichheitsgrundrecht in Zusammenschau zu betrachten, um Ungleichheit vollständig (ökonomisch und identitätsbasiert) zu erfassen. Damit ist der Sozialgesetzgeber zum Nachteilsausgleich aufgefordert.

Nazli Aghazadeh-Wegener (Foto: privat)

Nazli Aghazadeh-Wegener hat Politik- und Rechtswissenschaft an den Universitäten Frankfurt a.M. und Göttingen studiert. Sie promoviert bei Professorin Ute Sacksofsky zum Thema „Intersektionale Benachteiligung im Sozialstaat“ (Arbeitstitel) und hat hierzu kürzlich am Berkeley Center on Comparative Equality & Anti-Discrimination Law geforscht. Daneben arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Öffentliches Recht mit Schwerpunkt im Sozialrecht von Bundesverfassungsrichterin Astrid Wallrabenstein und hat zudem einen Lehrauftrag zu Geschlechterverhältnissen im Recht an der Universität zu Köln. Schließlich ist sie Mitglied der Kommission Recht der sozialen Sicherung und Familienlastenausgleich des Deutschen Juristinnenbundes.

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