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Vergesellschaftung im Recht

Ermöglicht unsere bestehende Rechtsordnung – z.B. Art. 15 GG – den Sprung in eine andere Wirtschaftsordnung, die sozial und ökologisch gerecht ist? Diese Syllabus sammelt zentrale Fragen und Literaturhinweise.

Published onOct 18, 2022
Vergesellschaftung im Recht
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Nachdem 59,1 % der Berliner*innen für den Volksentscheid „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ (DWE) gestimmt haben, trafen sich vom 7.-9. Oktober 2022 auf der Vergesellschaftungs-Konferenz über 1000 Aktivist*innen, Wissenschaftler*innen und Vertreter*innen von Parteien und Gewerkschaften.

Vergesellschaftung meint dabei die Überführung von Privateigentum in gesellschaftlich wichtigen Bereichen (wie Wohnen, Essen, Mobilität, Gesundheit) in gemeinwirtschaftliche Formen mit demokratischer Kontrolle durch alle, die von ihnen betroffen sind. Wie genau das gehen soll, wird intensiv diskutiert. Die Kernfrage der Konferenz war somit zugleich ein politisches Angebot: Wie kann gesellschaftlich produzierter Reichtum allen zugutekommen?

Für uns als Jurist*innen stellte sich dabei die Frage, was eine Vergesellschaftung für das Recht bedeutet, was überhaupt „demokratische Gemeinwirtschaft“ meint, wie die Vergesellschaftung organisatorisch abläuft, wer entschädigt werden muss, wie die internationale Dimension einzubeziehen ist usw. Am Ende des Dokuments sammeln wir deshalb einen Katalog stets wachsender Forschungsfragen & Literaturhinweise. Interessierte können sich gerne unter [email protected] melden, falls ein Interesse an Workshops und konkreten Kooperationen besteht – oder es einfach weitere Fragen gibt, die diskutiert werden sollten.

Auffällig war, dass juristische Perspektiven nur im einzig expliziten Rechtspanel als Verbündete wahrgenommen und ansonsten aus der Debatte ausgeklammert wurden. Hierdurch konnte auch auf Rückfragen aus dem Publikum, wie die vorgestellten postkapitalistischen Ideen abseits von Marktlogiken und Preismechanismus konkret umgesetzt werden könnten, meist nicht mit juristischer Expertise eingegangen werden. Das Recht wurde statt als transformative und gesellschaftsgestaltende Kraft in den Diskussionen über die konkreten politischen Instrumenten häufig als Bremsklotz wahrgenommen. Doch woran liegt das? Neben dem allgemein vorherrschenden stark individualisierten Rechtsverständnis dürften in letzterer Zeit insbesondere auch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Mietendeckel, die Expert*innenkommission zur Vergesellschaftung in Berlin oder die Beiträge einiger Staatsrechtslehrer, wonach gleich der gesamte Art. 15 GG mangels Anwendung obsolet sei, zum nicht gerade positiven Blick auf das Recht beigetragen haben.

Dies sollte als Weckruf an die Rechtswissenschaft und kritische Rechtswissenschaftler*innen verstanden werden, die eigene Rolle zu reflektieren, sich aktiver in den Diskurs zur Vergesellschaftung einzubringen und den eigenen möglichen Beitrag bei der sozial-ökologischen Transformation stärker hervorzuheben. Einzelne Reformvorschläge reichen für den Verbündetenstatus jedoch nicht aus, vielmehr muss eine kritische Selbstbefragung der strukturellen Dimensionen und konstruktiven Potenziale des Rechts erfolgen. Insofern ist für uns klar, dass die juristische Diskussion gerade erst anfängt.

Vergesellschaftete Form: Was ist Gemeinwirtschaft?

Als juristischer Ausgangspunkt dient hier Art. 15 GG - auf den die juristische Vergesellschaftungsdebatte derzeit auch zuläuft. Dieser nennt als Ergebnis „Gemeineigentum oder andere Formen der Gemeinwirtschaft“. Dies bedeutet aber nicht, dass nur im Kontext von Art. 15 GG Gemeinwirtschaft erreichbar ist.

  • Reichen bestehende Rechtsformen wie die Genossenschaft / Anstalt öffentlichen Rechts aus? Braucht es eine neue Rechtsform? Etwa eine Gemeineigentums-Kooperative?

  • Welche Modelle, die aus der Rechtsformgestaltung für transformative Wirtschaftsformen bekannt sind (insbesondere Hybridmodelle, gesellschafts- und sachenrechtliche Vertragsgestaltungen), könnten eine Fixierung auf bestehende Rechtsformen („Mono-Lösungen“) (Anstalt öffentlichen Rechts, Genossenschaft) verhindern?

  • Wie können privatrechtliche (Recht „von unten“) und öffentlich-rechtliche (Anforderungen an hoheitliches, verfassungsrechtlich gebundenes Handeln) Elemente miteinander verschränkt werden (z.B. im Sinne von „Commons-Public-Partnerships“)?

  • Wie werden diese Rechtsformen gegen Privatisierungen in der Zukunft geschützt? Ist die Hoffnung realistisch, dass staatliche Rechtsträger Eigentumstitel dauerhaft entprivatisiert halten oder sind zusätzliche Rechtsgestaltungen nötig, wie sie sich in anderen Bereichen bewährt haben?

  • Wie kann das Gemeineigentum ökologische Grenzen respektieren? - Gemeineigentum als Teil eines Ökosystems

Mitbestimmung und Demokratisierung: Stärkung bestehender und Entwicklung neuer Ansätze

  • Wie kann die gemeinwirtschaftliche Struktur demokratisch/partizipativ gestaltet werden, sodass alle vom Gemeineigentum Betroffenen dieses auch beeinflussen können? = Wer kann und sollte mitbestimmen und wie wird dies organisiert?

  • Orientierung an bestehenden Formen der Mitbestimmung, bspw. betriebliche Mitbestimmung, aber auch Umgang mit darüber bekannten Problemen: Interessenskonflikte zwischen Arbeitsplatz und Klimaschutz; enger positiver Bezug zum eigenen Produkt; Sogwirkung von Institutionen

  • Was wäre eine kritische, rechtshistorische Reflexion über Staatseigentum in der DDR?

  • Was muss der individuellen Freiheit offen bleiben?

  • Was umfasst die jeweilige Mitbestimmung? Bsp. Mieter:innenräte -> es geht nicht nur um die Häuser, sondern auch um die Nachbarschaften

  • Wie funktioniert die Koordination zwischen einzelnen Einheiten der Gemeinwirtschaft?

    • Hier gibt es eine reiche Literatur zur demokratischen Planung der Wirtschaft - kann das ein Argument sein, wenn es bei Art. 15 immer um die Vergesellschaftung von einzelnen Gütern/Bereichen/Zweigen geht?

    • Lässt sich das Kombinieren mit Erfahrungen (rechtlicher Garantien) von Betriebsräten, die zu gesellschaftlichen Räten erweitert werden?

    • Wie können Erkenntnisse der Commons-Forschung für die rechtliche Gestaltung fruchtbar gemacht werden, z. B. in der institutionellen Absicherung einer lebendigen Binnendemokratie (Verfahren zur Inklusion schlecht artikulierbarer Bedürfnisse, Heide Lutosch), der Einhegung von Marktmechanismen?

Vergesellschaftung als Prozess: How to Vergesellschaftung?

Vergesellschaftung mit Art. 15 GG: Was darf vergesellschaftet werden? Ist der Begriff der Produktionsmittel historisch und somit eng oder entsprechend der veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse weit zu verstehen?

  • Bspw. Landwirtschaftlicher Boden für ökologische Produktion?

  • Immaterielle Güter (Informationen, Daten, Algorithmen, Patente)? Oder nur ihre materielle Infrastruktur, z.B. Server bei Daten? Oder nur als „Anhängsel“ anderer Bereiche (z.B. die Daten im vergesellschafteten Transport), da Daten/Informationen für sich genommen ohnehin zu abstrakt sind, um dafür zu mobilisieren?

  • Energieversorgung? Transport? Gesundheitsversorgung?

Wann sind Produktionsmittel sozialisierungsreif? Wie bestimmt muss ein Gesetz zur Vergesellschaftung angesichts bestehender Datenlücken und vor dem Hintergrund der Finanzierbarkeit sein? Muss die Vergesellschaftung verhältnismäßig sein und werden Argumente lassen sich hier anführen?

  • Verwirklichung anderer Grundrechte (v.a. sozial geprägte Grundrechte - aber jenseits der Befriedigung von Grundbedürfnissen beginnt das (echte) „Reich der Freiheit“ (Marx))

  • „Unproduktive“ Wirtschaftsbereiche, die nur Renten extrahieren (Wohnung), brauchen noch nicht einmal das Argument mangelnder Innovation ohne Markt etc.?

Vergesellschaftung im Gesellschaftsrecht und kollektiven Arbeitsrecht: Veränderte, an demokratischen Prinzipien orientierte Mitbestimmungsmechanismen würden hier zwar nicht zu einer Vergesellschaftung von Eigentum im Sinne von Art. 15 GG, könnten möglicherweise aber zu einer Vergesellschaftung von Unternehmen und unternehmerischer Entscheidungen führen.

Vergesellschaftung durch Bindung staatlicher Unterstützung an Bedingungen und (zunächst) Staatseigentum

Vergesellschaftung von Infrastruktur -> Was bedeutet eine Infrastrukturgarantie und was folgt daraus?

PayDay - die Frage der Entschädigung

Bei vielen Formen der Vergesellschaftung wird sich der Widerstand der bisher Besitzenden auch an eine Entschädigung knüpfen.

Bzgl. Art. 15 GG wird sich der juristische Streit wahrscheinlich eher an dieser Stelle entscheiden, da der Gesetzgeber bei dem vorherigen Prüfungspunkt der Verhältnismäßigkeit einen weiten Einschätzungsspielraum hat.

  • Inwiefern bestimmt sich die Höhe der Entschädigung nach dem Charakter des Art. 15 (als Grundrecht, als Transformationsnorm in eine andere Wirtschaftsordnung, etc.)?

  • Wie ermittelt sich der Wert eines Gutes? (viele verschiedene Möglichkeiten der Wertermittlung) Was ist überhaupt ein Marktwert?

Die internationale Dimension

Die Konzerne unserer Wirtschaft sind international verflochten:

  • Welche rechtlichen Probleme entstehen, wenn eine Region einen Teil eines Konzerns vergesellschaften möchte?

  • Mit welchen Schadensersatzforderungen muss bei Vergesellschaftungen gerechnet werden? (Investitionsschutzabkommen etc.)

Auch andere Länder haben Möglichkeiten der Vergesellschaftung in ihren Verfassungen (oder diskutieren die Frage politisch) - Italien hat eine extrem weitreichende Sozialisierungsmöglichkeit - welche Synergien können sich hier (auch für die europäische Verfassungsordnung) ergeben? - Frankreich hat eine extrem eigentumsfreundliche Verfassung - gibt es trotzdem Potenziale für Sozialisierungen?

Literatur

Kritidis, Wolfgang Abendroth, oder, „Rote Blüte im kapitalistischen Sumpf“ 2015.

Ridder, Enteignung und Sozialisierung, Mitbericht zu den Verhandlungen der Tagung der Deutschen Staatsrechtslehrer in Göttingen am 18. und 19. Oktober 1951. In: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Heft 10, Berlin 1952, S. 124 ff

Röhner, Eigentum und Vergesellschaftung in der Wohnungskrise, KJ 2020, 16.

Thurn, Vergesellschaftung als sozialstaatliche Entprivatisierung und als Grundrecht in: KJ 2020, 183-188

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