Wie wirken sich dominante Machtstrukturen und Ordnungsvorstellungen auf unser Wohnen aus? Wonach entscheidet sich eigentlich, wie unser Wohnraum verteilt wird?
1. Wohnen ist eine der zentralen sozialen Frage unserer Zeit. In marktförmig organisierten Wohnsystemen ist ein grundlegender Widerspruch zwischen dem Wohnen als Grundbedürfnis und dem Wohnen als Ware angelegt, der eine nachhaltige Lösung unserer Wohnkrise verhindert.
2. Herkömmlichen Vorschläge zur Lösung der Wohnungsfrage, wie das Bauen oder die sanfte Regulierung gelingt es nicht, diesen Widerspruch zu adressieren. Es gilt daher Lösungen zu suchen, welche die Dekommodifizierung, Bezahlbarkeit und Demokratisierung unseres Wohnens ermöglichen.
3. Art. 15 GG enthält ein transformatorisches Potenzial und ermöglicht - nicht nur, aber gerade in Bezug auf das Wohnen - eine entprivatisierte und kollektive Freiheit.
Horst Seehofer heute sowie auch Friedrich Engels im 19. Jahrhundert sind sich einig: Wohnen ist eine zentrale Frage. Während Seehofer auf "Bauen Bauen Bauen" setzt, betonte Engels den Widerspruch von Wohnen als Grundbedürfnis und Ware. Diese verschiedenen Ansichten sollen der Ausgangspunkt des Vortrags sein.
Die Wohnungsfrage ist eine soziale Frage, denn Wohnen hängt mit sozialer Ungleichheit zusammen und Wohnen reproduziert soziale Ungleichheiten; eine Wohnkostenbelastung von 30% des Einkommens gilt als bezahlbar, jedoch geben viele Menschen mehr aus. Darüber hinaus stellt das Wohnen einen nicht zu vernachlässigenden Faktor im Kampf gegen den Klimawandel dar. Wichtig ist zudem: die Wohnungsfrage ist keine rein städtische Frage. Auch wachsende ländliche Räume stehen vor Wohnfragen- und auch die Probleme schrumpfender Regionen hängen hiermit zusammen.
Die BRD organisiert Wohnraumversorgung korporatistisch (d.h. in einem Zusammenschluss von Staat und privaten Unternehmen). Dabei ist zu beachten, dass sozialer Wohnungsbau kein öffentlicher Wohnungsbau ist, sondern die öffentliche Finanzierung von privatem Wohnungsbau. Sobald die Subventionen zurückgezahlt wurden, fallen die Wohnungen wieder in den privaten Markt. Das bedeutet, dass der soziale Wohnraum immer mehr abnimmt und Steuergelder nur für temporären Wohnraum ausgegeben werden.
Bedeutsam ist außerdem der neoliberale Schub der Politik ab den 1990er-Jahren: im Zuge der Deregulierung der Finanzmärkte wurde auch Wohnen zum Anlageprodukt. Diese weitreichende Finanzialisierung geschah durch u.a. großräumige Verkäufe von kommunalem Wohnungsbau und verstärkt sich durch das gegenseitige “Schlucken” von Wohnkonzernen. So sind Super-Vermieter entstanden, die in erster Linie eine Verwaltung des Bestandes, nicht aber Wohnungsneubau verfolgen. Ebenfalls bedeutsam ist die Deregulierung des Mietrechts in dieser Zeit, die Privatisierung der Stadtplanung in den Kommunen und eine generelle unternehmerische Stadtpolitik.
Die Wohnungspolitik in der BRD ist so ausgestaltet, dass nur in Krisen interveniert wird - die Versorgung soll im Grundsatz also über den Markt laufen. Erst die Mieter:innen-Bewegung hat die Wohnungsfrage wieder zum politischen Problem gemacht. Dabei werden verschiedene Lösungsvorschläge diskutiert:
Bauen Bauen Bauen bzw. "Bauen statt Klauen": Dieser Lösungsansatz setzt auf den Angebot-Nachfrage-Markt und einen behaupteten, aber empirisch bisher nicht belegten „Trickle-Down-Effekt“. Gebaut werden viele teure Wohnungen, in die dann Reiche einziehen sollen, was eine Umzugskette in Gang setzen soll. Dies funktioniert aber nicht, weil Wohnen kein Toaster ist, sodnern eine besondere Ware, aufgrund von Immobilität, diskriminierendem Zugang beim Abschluss von Mietverträgen (Rassismus + Nachname), lange Investitionszyklen, emotionale Bindung an Wohnungen. Problematisch an Umzugsketten ist zudem, dass das Mietrecht im Fall eines Umzugs Mietsteigerung ermöglicht.
Sanfte Markteingriffe: Als eher sanfte Markteingriffe werden die Mietpreisbremse und der sog. Milieuschutz eingestuft. Die Mietpreisbremse erlaubt 10% Mieterhöhungen und ist in der Realität ineffektiv, weil sie zahlreiche Ausnahmen vorsieht (auf massive Lobbyarbeit der Immobilienlobby hin) und weil es im Mietrecht kein Verbandsklagerecht gibt. „Milieuschutz“ ist stark von den lokalen politischen Verhältnissen abhängig. Sofern er in der Kommune eingeführt wurde, kann das Vorkaufsrecht geltend gemacht werden. Allerdings schützt der Millieuschutz nie die ersten, die verdrängt werden, da für die Einführung bereits geschehene Verdrängung nachgewiesen werden muss.
Daher sollten nachhaltige Lösungsansätze sich auf folgende drei Aspekte beziehen:
Dekommodifizierung: D.h. Wohnraum dem Marktmechanismus entziehen. Hier gibt es zahlreiche Protestbesipiele, wie einen Volksentscheid in Osnabrück.
Bezahlbarkeit: Bestehende mieten müssen bezahlbar bleiben. Es gibt keinen Automatismus steigender Mieten. Beispielhafte Regelungen: Mietendeckel / Mietenstopp.
Demokratisierung: Es braucht öffentliche Verfügbarkeit und Mitbestimmung, z.B. in öffentlichen Wohnungsunternehmen - und darüber hinaus.
Der Wohndiskurs ist eng verbunden mit Debatten um das Privateigentum, welches als scheinbar legitimes Ergebnis anonymer Marktkräfte sozioökonomische Machtpositionen verschleiert. Das Privateigentum umfasst eine Ausschließungs- und eine Nutzungsfunktion — und wird aktiv durch das Recht geschaffen.
Es existiert eine lange Kritiklinie des Privateigentums: dieses beschränke sich nur auf den Schutz individueller Freiheit und blende strukturelle Ungleichheiten sowie Privilegien aus. Die existierenden Eigentumsverhältnisse würden so normalisiert; dass so die politische Verantwortung für Verteilungsverhältnisse negiert oder ins Recht ausgelagert würde; dass durch einen abstrakten formalen Gleichheits- und Freiheitsschutz Privilegien und Machtpositionen aus dem Blick gerieten. Stattdessen (Mutua) sollten Privilegien mehr in den Blick genommen werden; die Rechtfertigungslogik umgedreht werden; Eigentum in kollektiver Dimension adressiert werden - wobei die Vergesellschaftung eine transformative Funktion erfüllt.
Art. 15 GG kann hierbei als Ermächtigungsnorm fungieren. Hintergrund ist die "Neutralität" des Grundgesetzes, nach der die Legislative den Schlüssel zur Transformation des Marktes und demokratischen Überwindung des Kapitalismus haben muss. Insofern führt Sozialisierung über das Privateigentum hinaus: Es geht nicht um den Rahmen des Eigentums (wie etwa bei der Sozialbindung in Art. 14 II GG), sondern um eine andere Organisationsweise als Überwindung des Kapitalismus auf juristischem Weg.
Die Voraussetzungen der Sozialisierung in Art. 15 GG sind weitgehend ungeklärt. Zunächst braucht es ein sozialisierungsfähiges Gut, was bei Wohnraum (Grund und Boden) gegeben ist. Besonders umstrittene Punkte:
Muss die Vergesellschaftung verhältnismäßig sein (im Vergleich zur Eigentumsordnung)? Eher nicht, da gerade eine andere Ordnung geschaffen wird - es kann also nur um die Zweckmäßigkeit gehen.
Entfaltet die Berliner Landesverfassung eine Sperrwirkung? Nein, das kann schon nicht überzeugen, weil das Grundgesetz im Zweifel vorgeht.
Weiterer Streitpunkt ist die Entschädigungshöhe.
Was Art. 15 GG vermag, ist das Potential der Demokratisierung von Wirtschaftsbereichen hervorzuheben - so schon von Wolfgang Abendroth und Helmut Ridder gesehen. Das Potenzial liegt in der Bedürfnisbefriedigung der Allgemeinheit, der Schaffung entkommerzialisierter Freiräume, eine soziale Stadtentwicklung und die Sicherung kollektiver Freiheit. Das geht in der aktuellen Debatte etwas unter. Insofern kann die Vergesellschaftung als Grundrecht auf Entprivatisierung eine kollektive Freiheit ermöglichen und Asymmetrien aufbrechen.
Wie ist die Rolle der Finanzialisierung einzuschätzen? LV: Die Dynamik der Finanzialisierung ist wichtig, sollte aber auch nicht überschätzt werden. Sinnvoll ist die Thamtisierung, weil sich hierüber steigende Mieten skandalisieren lassen und die Restrukturierung von Wohnungsmärkten erklärt werden kann. Auch lässt sicher hier aufdecken, dass Bauen Bauen Bauen nicht das Geschäftsmodell von Immobilienunternehmen ist, wir also auf diese nicht zählen können. Andererseits ist das Problem nicht die Anlageform am Finanzmarkt, sondern die allgemeine Profitorientierung (daher wäre auch ein bloßes Verbot von Wohnungsverkauf an Kapitalgesellschaften nicht zielführend). Diese gilt es aufzulösen. Schwierig ist an der Finanzialisierung zudem die Komplexität und die vielen darin verwobenen Politikfelder, die schwierig politisch verarbeitbar sind. Außerdem bringt es auch strategisch erst einmal nichts, die Beliner Mieterin gegen die Rentnerin aus Kanada auszuspielen - wenngleich die Diskussionen über Kleinanleger:innen und Kleinstvermieter:innen auch irreführend sein können.
Was bringt das Wohngeld? LV: Das Wohngeld löft die strukturellen Probleme nicht. Vielmehr werden hierüber hohe Mieten finanziert.
Lässt sich die Wohnungskrise nicht durch einen verringerten Zuzug in Städte mildern? LV: Auch die Verstädterung hat strukturelle Gründe, die man ändern könnte. Wohnprobleme beschränken sich aber nicht auf Städte.
Was für eine Art Grundrecht ist Art. 15 GG? Was bedeutet „kollektives GR auf Entprivatisierung“? Ist es ein GR sui generis? Ist es vergleichbar mit dem kollektiven Arbeitnehmer:innenrecht? Ähnlich wie das Antidiskriminierungsrecht? Welche anderen Grundrechte haben eine institutionelle Komponente? CR: Zu letzterem: strukturelle Transformation in verschiedenen GR angelegt; beispielsweise die institutionelle Dimension von Art. 5 GG.
Folgt aus dem Grundrechtscharakter von Art. 15 GG eine Einklagbarkeit? CR: Ob aus dem Grundrechtscharakter von Art. 15 GG eine Einklagbarkeit folgt, setzt noch juristische Arbeit voraus. Wichtig ist auf jeden Fall, Art. 15 GG nicht nur metaphorisch zu verstehen, sondern als effektive Ermächtigungsnorm für gesellschaftliche Transformation mit dem Effekt, grundrechtliche Freiheiten und Freiheitsräume anders zu organisieren. Ggf. liegt bzgl. der Einklagbarkeit eine Parallele zur Klagebefugnis bei Bürgerbegehren nahe. Wichtig ist jedoch, dass Art. 15 GG eine kollektive Freiheit meint, in der wir uns selbst organisieren können.
Wird die Frage der Verhältnismäßigkeit nicht später - bei der Entschädigungshöhe - noch relevant? CR: Die Frage der Verhältnismäßigkeit kann, aber muss nicht im Rahmen der Entschädigungssumme relevant werden. Dagegen spricht die Entstehungsgeschichte der Norm, wonach eine Transformation in eine andere Wirtschaftsweise nicht nach den Maßstäben des Marktes erfolgen kann. Ggf. wird parallel wie bei Hartz IV eine Prüfung, ob die Entschädigung vor dem Hintergrund des Enteignungszwecks offensichtlich unverhältnismäßig ist, fruchtbar.
Was ist Ziel und Objekt der Vergesellschaftung; was ist der Unterschied und müsste man nicht eigentlich das gesamte Wohneigentum vergesellschaften? LV: Diese Frage gilt es aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten, wobei insbesondere strategische Erwägungen wichtig erscheinen.
Gibt es eine Prognose zur Enteignungskommission in Berlin und weitere Chancen der Demokratisierung über Mieter:innenräte hinaus? CR & LV: Eher pessimistischer Abschluss; der Volksentscheid wird von der Berliner Politik nicht ernst genommen und es fehlt der Wille zur Umsetzung. Daher braucht es politischen Druck. Daneben sollten Überlegungen zur Demokratisierung via eine Anstalt öffentliches Rechts mit Rätesystem weitergeführt werden, lokal wie in größerem Rahmen. Hier betreten wir Neuland, inwieweit die Demokratisierung des Systems funktionieren kann.
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Hybride Veranstaltung am 10.05 um 18:30 Uhr
Über Zoom und an FAU Erlangen-Nürnberg (Raum JDC 2.281)
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Im Rahmen dieser Veranstaltung widmen wir uns der Frage, wie sich dominante Machtstrukturen und Ordnungsvorstellungen auf unser Wohnen auswirken. Wonach entscheidet sich eigentlich, wie unser Wohnraum verteilt wird und wieso muss ich mir wohnen leisten können?
Zur Beantwortung dieser Frage wollen wir die rechtswissenschaftlichen und stadtsoziologischen Diskussionen zusammenbringen. Wir wollen diskutieren, wie sich marktorientierte Denkweisen in die deutsche Rechtsdogmatik einschreiben und wie sich dies auf unser Wohnen auswirkt. Inwieweit wird die Wohnung rechtlich vor allem als Ware erfasst und dem Eigentumsdogma unterworfen? Wie wird der Charakter des Wohnens als menschliches Grundbedürfnis berücksichtigt?
Nach einem Einblick in unser aktuelles Wohnversorgungssystem wollen wir dabei auch alternative Mechanismen diskutieren. Hierfür werden wir insbesondere stadtsoziologische Erkenntnisse heranziehen, in denen kritische Perspektiven weiter verbreitet sind und aktuelle Bestrebungen diskutieren, die unsere derzeitige Verteilungsordnung in Frage stellen. Wir freuen uns, als Referentinnen die Professorin für Stadtplanung Lisa Vollmer und die Verfassungsrechtlerin Cara Röhner begrüßen zu können.
Lisa Vollmer vertritt die Professur für Stadtplanung an der Bauhaus-Uni Weimar. Sie leitet das Forschungsprojekt “Städtische Ko-Produktion von Teilhabe und Gemeinwohl. Lokale Aushandlungsprozesse zwischen zivilgesellschaftlichen Akteuren und städtischen Verwaltungen” und hat zu den Mieter*innenbewegungen in Berlin und New York promoviert.
Cara Röhner ist Professorin an der Hochschule RheinMain in Wiesbaden. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Verfassungs-, Sozial- und Antidiskriminierungsrecht. 2019 erschien ihre Promotion zu “Ungleichheit und Verfassung”.
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